Nachdem überall im Internet bereits die erstaunlichsten Dinge über die neueste FTD-Veröffentlichung zu lesen waren, möchte ich etwas verspätet auch noch meine Meinung dazugeben.
Ich hab die Scheibe vorgestern erhalten - und war nach dem ersten Hör-Durchgang ziemlich enttäuscht gewesen! Von Elvis wie 1970, war zu lesen gewesen, von unglaublicher Power und gar davon, dass nun die Geschichte umgeschrieben werden müsse. Nichts von alldem trifft in meinen Augen (und Ohren) zu, und trotzdem ist die "Spring Tours 77" etwas Essentielles für die Sammlung.
That's All Right
Elvis an der akkustischen Klampfe mit seinem ersten Sun-Titel. Ein netter Einstieg in diese CD mit Konzert-Fragmenten vom Frühling 1977. So oder so ähnlich hat man das aber schon auf der "Elvis In Concert"von RCA oder der "Moody Blue" von Fort Baxter gehört. Nix Sun-Records und schon gar nix 1970. Die Version klingt so, wie ich es erwartet habe, nicht sonderlich aufregend.
Are You Lonesome Tonight
Live eher ein bescheidener Genuss, die Intimität des Originals lässt sich kaum auf die Bühne transportieren. Trotzdem sind die Spässchen und Lacheinlagen von Elvis einigermassen amüsant.
Blue Christmas
Obwohl er das auch 1976 immer wieder mal spontan in die Show einfliessen liess, klingt es hier ziemlich holprig, aber dadurch auch irgendwie charmant.
Trying To Get To You
Hier hat sich dann erstmals dieses "Wow!"-Gefühl eingestellt, dass mich immer überkommt, wenn ich irgend eine neue geile Version von einem Elvis-Song zu hören kriege. Elvis schnurrt und gurrt, bellt und schreit und gleitet majestätisch durch dieses unverwüstliche Lied wie ein Luxusdampfer durch die sonnenbestrahlten Weltmeere (tschuldi, hab gerade Ferienprospekte neben dem PC aufliegen)
Lawdy Miss Clawdy
Zum zweiten Mal der "Wow!"-Effekt, und somit hat sich diese CD für mich bereits gelohnt. Elvis geht mit dem Song mit, so wie ihm das viele 1977 wohl gar nicht mehr zugetraut hätten, und das Piano-Solo von Tony Brown ist einfach nur stark.
Fever
Die Studio-Version von Fever ist was vom coolsten was je von irgendwem auf irgendeiner Platte veröffentlicht worden ist. Die Live-Versionen konnten mich hingegen noch nie überzeugen, egal ob 1972 oder 77, ist nichts für mich. Mag wohl live der Hammer gewesen sein, Elvis in rotes Licht getaucht seine legs und sein pelvis shaken zu sehen, auf Platte gepresst kommt das aber nicht so heiss rüber.
Heartbreak Hotel
Schon gemerkt? Ich gehöre nicht zu denen die meinen, dass Elvis seine "Golden Oldies" in den Siebzigern besser brachte als in den Fifties. Klar, die Musik ist moderner, die Band vielleicht auch versierter, aber Elvis selbst brachte seine Gassenhauer nur selten mit der selben Inbrunst wie früher. Klar gibt es Ausnahmen (Trying To Get To You ist ein schönes Beispiel, hier wird das Original doch tatsächlich getoppt), und einige hat er total verbockt (Teddy Bear, Don't Be Cruel). Heartbreak Hotel gehört da irgendwo in die Mitte, ist nicht übel, aber auch keine Meisterleistung. Für die Version hier gibt's die "77er-Raritäten-Bonus-Punkte", und noch ein paar Zerquetschte für den sauberen und kraftvollen Gesang.
If You Love Me
"Let Me Be There" war für mich schon immer die bessere Olivia-Newton-John-Nummer, daran ändert auch diese Version nichts, die sich kaum von den zig anderen Versionen, die wir schon davon haben, unterscheidet.
It's Now Or Never
Klingt hier auch nicht anders als das, was wir bereits kennen. Zuviel Pomp, zuviel Sherril Nielsen aber dafür einen Elvis der sich stimmlich voll ins Zeug legt.
Little Sister
Leider kein "Blue Hawaii", dafür eine recht fetzige "Little Sister". Aber auch hier, wer Elvis-Konzerte von 1977 zuhause im Regal stehen hat, kennt das irgendwie schon.
Teddy Bear/Don't Be Cruel
Für mich der absolute Tiefpunkt einer jeden Elvis-Show. Da drück ich gleich mal die Skip-Taste.
Help Me
War der musikalische Hilfeschrei von Elvis 1977 wirklich einer, oder hat ihm nur das Lied sehr gut gefallen? Ich weiss es nicht, zum Song selbst kann ich nur sagen, dass er von Elvis sehr schön vorgetragen wird.
Blue Suede Shoes & Hound Dog & Jailhouse Rock
Elvis vergewaltigt seine Klassiker, die Band spielt sich den Arsch ab und dem Publikum gefällt's. Gibt's nicht mehr viel dazu zu sagen...wer's mag...
Polk Salad Annie
Dieser Titel war 1977 ja auch schon sowas wie ein Elvis-Klassiker, auch hier hänge ich persönlich eher an den frühen Versionen von 1970. Im Laufe der Jahre wurde der Song vielleicht perfektioniert, die Band brachte ihn immer ungestümer und wilder, dafür brauchte sich Elvis weniger reinzuhängen. Ist ein bisschen so wie beim Sex: wer auf die schnelle, harte Nummer zwischendurch steht wird hiermit vorzüglich bedient, wer's lieber ein wenig gefühlvoller dafür intensiver mag greift zu früheren Versionen
Dafür gibt's hier den unerwarteten "77er-Power-Bonus".
Bridge Over Troubled Water
Auch hier merkt man auf unangenehme Weise, dass es nicht mehr 1970 ist. Die frühen Versionen dieses Titels strahlten eine beinahe schon ausserirdische Schönheit aus, diese blitzt hier aber nur noch an einigen wenigen Stellen auf, der Rest hört sich dann schon so an, wie man das für 77 auch erwartet hätte.
Big Boss Man
Für mich das Highlight der CD. Tony Brown am Piano gibt dem Song einen gänzlich neuen Drive. Dies hier ist für mich die ultimative Live-Version von dem Stück, muss man gehört haben.
Fairytale
Klingt ähnlich gequält wie auf der "Elvis In Concert", dass er zwischendurch den Text vergisst, macht die Sache auch nicht besser.
Mystery Train/Tiger Man
Auch hier kann ich, im Gegensatz zu anderen Review-Schreibern, keine akkustischen Paralellen zu TTWII erkennen. Elvis rockt ordentlich, die Band sowieso und damit hat es sich aber auch schon. Trotzdem, für 77 unerwartet powervoll.
Unchained Melody
Nicht die beste Version, aber wie alle anderen auch herrlich dramatisch und Elvis gibt alles was ihm noch möglich ist.
Little Darling
Spass-Nummer, die ich persönlich nicht so witzig finde.
My Way
Gibt es einen Song der solch ein Sammelsurium von Konzert-Ausschnitten besser abschliessen könnte? Natürlich nicht, weshalb wir uns mit der selben Aufnahme begnügen müssen, die uns bereits auf der Platinum Box beglückte. Herrlich (würde jemand anders jetzt sagen)
Mein Fazit: Es wurde etwas zuviel rosa Gesülze über die CD geschrieben, so dass ich anfangs beinahe ihren wahren Wert nicht erkannte. Was wir hier bekommen haben, ist das letzte Kapitel. Wir hören einen Mann, der eigentlich überall sein sollte, nur nicht auf einer Bühne. Dass der aber seinen Fans trotzdem alles gibt, was ihm noch möglich ist, und immer wieder auch seine Genialität aufblitzen lässt, wenn auch nicht so oft wie zu Beginn des Jahrzehnts, nötigt mir allen Respekt ab. Dies, die famose Leistung der Band, das stellenweise aussergewöhnliche Song-Material und die sehr gute Soundqualität machen die "Spring Tours 77" auf jeden Fall bestimmt nicht zur besten aber zu einer der wichtigsten FTD-Veröffentlichungen, die eigentlich jeder Fan haben sollte.